René Jacobs: Nach den Stürmen wird es heiter (2024)

René Jacobs sitzt am Pult der Staatsoper Unter den Linden und rudert Kreise in die Luft. Große, kleine, kaum sichtbare. Jeder Kreis gibt einen Impuls. Jeder Impuls löst etwas aus. Jacobs braucht keinen Dirigentenstab. Manchmal fährt seine Hand mit ausgespreizten Fingern nach vorn wie ein Blitz. Er lächelt oft. Wenn eine Arie besonders gelingt, applaudiert Jacobs kurz in Richtung des Sängers oder der Sängerin. „Das war gut heute“, sagt er in einer Pause.

René Jacobs probt mit der Akademie für Alte Musik Berlin „Il Giustino“ von Antonio Vivaldi. Am Sonntag ist die Premiere. Es ist die erste Vivaldi-Oper in diesem Haus. Seit genau 30 Jahren dirigiert Jacobs hier. „Die Staatsoper spielt eine sehr große Rolle in meinem Leben“, sagt der 76-Jährige der Berliner Zeitung. 1992 holte ihn der damalige Intendant Georg Quander nach Berlin. Nach dem Mauerfall sollte mit „Cleopatra e Cesare“ von Carl Heinrich Graun ein Neuanfang gesetzt werden. Das Werk war 1742 für die Eröffnung der Königlichen Hofoper geschrieben worden. Quander sei zunächst davon ausgegangen, dass die Staatskapelle spielen würde. Jacobs erzählt: „Ich habe ihm abgeraten. Ich habe ihm gesagt, die Staatskapelle ist ein ganz wunderbares Orchester, aber für Alte Musik ist sie nicht das richtige Instrument.“ Jacobs wollte ein Ost-Berliner Ensemble einsetzen, mit dem er schon in den 1980er-Jahren eng zusammengearbeitet hatte, die Akademie für Alte Musik Berlin. Jacobs erinnert sich: „Diese jungen Musiker waren großartig. Sie hatten alle einen Hauptberuf, meist als Musiker in klassischen Orchestern. Das Spielen auf Originalinstrumenten war ihr Hobby. Wir konnten oft erst nach 18 Uhr proben oder spät in der Nacht. Wenn wir Noten fotokopieren wollten, mussten wir eine Erlaubnis einholen, das war in der DDR so.“

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Doch Quander traute der Akademie die erste Premiere nicht zu. Damals übernahm ein West-Orchester die Premiere, das Ensemble Concerto Köln. Heute zählt die Akademie für Alte Musik Berlin zu den Weltklasse-Orchestern, spielt in der Champions League der Alten Musik. René Jacobs hat in der Staatsoper unter anderem Händel, Monteverdi, Mozart, Purcell, Scarlatti, Telemann, Haydn, Keiser sowie zahlreiche in Vergessenheit geratene Komponisten aufgeführt. Der Intendant der Staatsoper, Matthias Schulz, hat das Potential erkannt und ein eigenes Festival für Alte Musik etabliert. Seit einigen Jahren gibt es, wenn die Staatskapelle auf Tournee ist, die „Barocktage“ in der Staatsoper. René Jacobs ist der Fixstern dieser Tage. Das Publikum ist jung und international.

Seine musikalischen Anfänge liegen in Flandern, in seiner Heimatstadt Gent. Im Knabenchor der St.-Bavo-Kathedrale, in der sich unter anderem der berühmte Flügelaltar von Jan van Eyck befindet, sang der junge René Gregorianik und Oratorien. Er wollte immer Musiker werden, sagt Jacobs, lernte Klavier und Orgel. Die Oper war ihm zunächst eher unsympathisch: „Ich kann mich an Don Carlos von Verdi erinnern: Da sangen alle italienisch, nur ein Bass sang französisch. Ich weiß nicht warum, vielleicht ist er eingesprungen.“ Besonders traumatisch muss eine Aufführung von „Cavalleria Rusticana“ gewesen sein: „Das habe ich gehasst. Ich habe meiner Mutter gesagt: Ich gehe nicht mehr in die Oper“, sagt Jacobs, noch heute hörbar aufgebracht. Jacobs störte die unnatürliche Art des Gesangs. Erst Karajan-Aufnahmen von Mozart-Opern versöhnten ihn wieder mit der Gattung.

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Als seine Stimme „vom Mezzosopran zum hohen Tenor abgeglitten“ war, fiel dem jungen Choristen bei einer konzertanten Aufführung von Purcells „Fairy Queen“ ein Mann mit Bart auf, der wie eine Frau sang. Die Begegnung mit dem englischen Countertenor Alfred Deller führte zur Entdeckung der eigenen Falsettstimme und wurde entscheidend für den weiteren Weg von Jacobs. Er besuchte Dellers Sommerkurse in Südfrankreich und wurde schließlich später einer der gefragtesten Countertenöre und selbst Gesangslehrer. Zuvor musste er jedoch eine Extrarunde drehen: „Meine Mutter, die ziemlich dominant war in der Familie, sagte, du musst ein richtiges Diplom machen – kein musikalisches. Also studierte ich Altphilologie.“ Er arbeitete eine Zeitlang als Lehrer für Griechisch und Latein, wagte dann jedoch „den Sprung ins kalte Wasser“, gab den Schuldienst auf und wurde „unabhängiger Künstler“ – sehr zum Verdruss der Mutter, die nicht verstand, warum er nicht wenigstens eine halbe Stelle behalten wollte. Die Kenntnis der Sprachen und der Kulturen sei entscheidend für sein Verständnis für die antiken oder mythologischen Geschichten, die im Barock meist als Vorlagen für die Libretti dienten, sagt Jacobs.

Noch heute liest er zuerst das Libretto, ohne Musik: „Und wenn ich es nicht gut finde, dann mache ich die Oper nicht.“ Jacobs erklärt, dass das Publikum in der Barockzeit ein ganz anderes Verhältnis zum Libretto hatte: „Etwa zwei Wochen vor der Aufführung konnte man das Libretto kaufen. Der Librettist hat von diesen Einnahmen gelebt. Das Publikum – etwa in Rom oder Venedig – hat dann schon vor der Aufführung über den Stoff diskutiert. Und dann war man gespannt, wie das Ganze mit Musik klingen würde.“ René Jacobs bedauert, dass diese Praxis heute in Vergessenheit geraten ist: „Die Opernhäuser könnten das ganz leicht machen. Sie könnten den Text vor der Aufführung ins Internet stellen, dann müsste man sich nicht eine Viertelstunde vorm Beginn der Oper schnell durchs Programmheft hetzen.“

Seine Karriere als Dirigent begann für Jacobs bei den Festwochen der Alten Musik in Innsbruck, wo er erstmals gleichzeitig sang und dirigierte: „So wie Peter Schreier“, sagt Jacobs und lacht laut auf. Die Aufführung war ein großer Erfolg, der Dirigent René Jacobs war geboren. Der akribische Analytiker bildete sich zwar mit Büchern über Dirigieren in der Barockzeit, doch entscheidend war die Praxis. Er habe das Handwerk „mit viel trial und viel error“ gelernt, sagt Jacobs.

Seine Kompetenz als Sänger und Philologe prägt die Art, wie Jacobs musizieren lässt. Er erklärt den Sängern den Inhalt der Texte. Er rät den Instrumentalisten, auf die Singstimmen zu hören, sie zu imitieren. Das führte auch zu manchem Kulturschock: „In Hamburg habe ich einmal dirigiert, und als ich an einer Stelle den Musikern eine Phrase vorgesungen habe, hob ein erster Geiger von einem der hinteren Pulte die Hand, protestierte, und sagte: Sie sind nicht hier, um zu singen, sondern um zu schlagen.“

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Im Lauf der Jahre hat sich Jacobs immer weiter ins 19. Jahrhundert vorgearbeitet. Zuletzt legte er eine viel beachtete Aufführung von Webers „Freischütz“ mit dem Freiburger Barockorchester vor. Das nächste Projekt ist Bizets „Carmen“ – in der vom Bärenreiter-Verlag neu aufgelegten Originalfassung von 1884. Doch es wäre nicht Jacobs, gäbe es nicht eine Überraschung: Er erzählt, dass die weltberühmte „Habanera“ ursprünglich nicht Teil der Oper war. Erst als die Carmen-Sängerin – „eine etwas vulgäre Lady“ – verlangte, dass man ihr gefälligst eine Einstiegsarie mit etwas „exotisch Spanischem“ bieten müsse, wurde die Habanera eines baskischen Salon-Komponisten eingefügt. Die „Carmen“ wird es als Europa-Tournee geben, unter anderem in Paris, Madrid, Dortmund und Köln. Eine weitere Oper, die Jacobs machen will, ist Giuseppe Verdis „Falstaff“.

Kürzlich wurde er gefragt, ob er sich nicht nach dem „Freischütz“ nun den „Fliegenden Holländer“ vornehmen müsse, sagt René Jacobs. Es wäre interessant zu hören, wie Wagner auf den Instrumenten der Zeit klingt. Jacobs räumt ein, sich mit dem Gedanken beschäftigt zu haben, und zwar im Detail: „Wagner will, dass die Rheintöchter saubere Triller singen.“ Dies sei mit modernen Mitteln kaum zu erreichen. „Man müsste es mit ganz anderen Sängern machen. Wagner hatte damals ja auch keine Wagner-Sänger.“ Doch er sieht zwei Probleme: Wagner mit alten Instrumenten zu machen sei sehr teuer. Sein zweiter Einwand wiegt schwerer: „Wagner hat auch ,Über das Judentum in der Musik‘ geschrieben. Das ist so etwas Entsetzliches, dass ich die ganze Zeit, in der ich mich mit Wagner beschäftigen würde, daran denken müsste. Und ich würde mich fragen: Was machst du da?“

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Für Vivaldis „Il Giustino“ kann René Jacobs dagegen aus Überzeugung werben. Die Musik sei auf Augenhöhe mit Händel. Dieser hat die Geschichte vom Bauern, der zum König wird, ebenfalls vertont. Jacobs: „Ich muss sagen, die Schlummerarie ist bei Vivaldi sogar noch schöner als bei Händel.“ Er schwärmt vom Klang des Psalteriums, einem selten zu hörenden Instrument, einer Art Hackbrett mit silbernem Klang, das eine „Harmonie von Sphären“ erzeuge.

Im letzten Bild erscheint auf der Bühne der Staatsoper eine Botschaft: „Nach Wolken und Stürmen wird es endlich wieder heiter.“ Als die Probe zu Ende ist, tritt ein Musiker mit seiner großen Basslaute an das Dirigentenpult. Er zieht einen Bleistift unter der Partitur heraus, steckt ihn in seine Jackentasche und sagt zu René Jacobs: „Ich bringe ihn morgen wieder mit.“ Der Dirigent nickt und wirft sich ein grünes Handtuch über die Schulter. Im Foyer entscheiden die Kostümbildnerinnen, dass sie die Beine von Amor etwas weniger weiß färben werden.

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